20.07.2020 - Trotz Corona waren die Insolvenzzahlen in Deutschland zuletzt sogar rückläufig im Vergleich zum Vorjahr. Gute Nachrichten? Wohl eher nur auf den ersten, sehr oberflächlichen Blick. Wer das "Kleingedruckte" der aktuellen Entwicklungen liest, weiß, dass es eine tickende Zeitbombe ist. Es ist keine Entwarnung und kein Grund, sich in falscher Sicherheit zu wiegen.
Zum einen häufen sich im 1. Halbjahr dieses Jahres bereits Großinsolvenzen in Schlüsselbranchen wie Automobilindustrie oder Metallbranche sowie im textilen Einzelhandel. Zum zweiten ist die Insolvenzantragspflicht bis September ausgesetzt. Das bedeutet, die meisten Unternehmen sind im absoluten Blindflug unterwegs, was ihre Abnehmer angeht. Theoretisch könnten sie längst zahlungsunfähig sein, müssen dies aber in der aktuellen Situation nicht bei einem Insolvenzgericht anzeigen. Die Stunde der Wahrheit schlägt erst im Herbst. Und drittens ist Deutschland wie kaum ein anderes Land auf der Welt stark vom Export und damit von den globalen Entwicklungen abhängig. Und die verheißen aktuell nichts Gutes. Weltweit dürften die Insolvenzen in den zwei Jahren bis 2021 (vergleichen mit 2019) um rund 35% ansteigen. Ein Drittel mehr Pleiten also durch Corona. Dabei sind die Negativeffekte mit einem Anstieg um 17% im laufenden Jahr und einem weiteren Zuwachs um 16% im Jahr 2021 in etwa gleich verteilt.
Geografisch ist die Entwicklung allerdings keinesfalls gleich verteilt, sondern vollkommen heterogen. Die USA befinden sich im Epizentrum des Insolvenzbebens. In den kommenden zwei Jahren (2021 vs. 2019) steigen Insolvenzen dort um 57% an – der Großteil (+47%) davon schon in 2020. Damit gehören die Vereinigten Staaten zu zwei von drei Ländern, die schon 2020 eine riesige Pleitewelle erleben werden, ebenso wie auch Brasilien, China, Portugal, Spanien oder Italien.
Bei einem Drittel der Länder folgt der stärkste Anstieg erst 2021 – dazu gehört auch Deutschland sowie Frankreich, Großbritannien, Belgien, der Schweiz oder Indien. Im Vergleich zu vielen anderen Ländern kommt die deutsche Wirtschaft aber vergleichsweise mit einem blauen Auge davon. Der Anstieg der Insolvenzen bis 2021 dürfte bei insgesamt 12% liegen. Mit 4% ist der Anstieg der Pleiten 2020 noch relativ gering, aber spätestens mit dem Herbst (und dem Ende der Aussetzung der Insolvenzantragspflicht) geht es auch hierzulande los. 2021 folgt dann ein weiterer und deutlicherer Zuwachs um rund 8%.
12% mehr Pleiten bis 2021 – das ist verglichen mit 57% in den USA im gleichen Zeitraum zwar deutlich geringer, aber für die lange Zeit robuste deutsche Wirtschaft ist das dennoch ein drastischer Einschnitt und Unsicherheitsfaktor, zumal die Entwicklung lange Jahre rückläufig war. Zumindest bei den Fallzahlen. Nicht so bei den durchschnittlichen Schäden - diese haben sich in den letzten Jahren trotz stetig sinkender Fallzahlen verdoppelt.
Deutschlands Vorteil gegenüber vielen anderen Ländern ist neben der besseren Ausgangssituation der kürzere, weniger strikte Lockdown und vor allem die schnellen und sehr umfangreichen Sofortmaßnahmen der Regierung. Insbesondere der gemeinsame Schutzschirm von Bund und Kreditversicherern für deutsche Unternehmen hat den Handel erst einmal stabilisiert und Lieferketten zusätzlich geschützt.
Diese Liquiditätsmaßnahmen haben zusammen mit der ausgesetzten Insolvenzantragspflicht der deutschen Wirtschaft erst einmal Luft verschafft. Das Problem ist jedoch verschoben, nicht aufgehoben. Mit zusätzlichen Verbindlichkeiten sinkt die Bonität. Viele Unternehmen waren bereits vor der Covid-19-Pandemie stark verschuldet und die nun noch höheren Schuldenberge drohen einige von ihnen zu erdrücken.
Mittelfristig müssen also Lösungen her, wie diese zusätzlichen Schulden abgebaut oder refinanziert und damit die Bonität der Unternehmen stabilisiert werden können. Es ist ein Drahtseilakt. Werden die staatlichen Maßnahmen zu früh beendet, bedeutet dies, dass der Anstieg bei den Pleiten 5-10 Prozentpunkte höher ausfallen dürfte. Laufen sie zu lange, hält dies aber auch die vielen Zombieunternehmen weiter am Leben, die für die Wirtschaft ebenfalls Gefahren bergen.
Hinzu kommen große Herausforderungen für die Unternehmen bezüglich der sich – nicht zuletzt durch Covid-19 – drastisch verändernden Geschäftsmodelle.
So ist zum Beispiel kein Unternehmen darauf ausgerichtet, plötzlich nur noch die Hälfte der Kunden zu bedienen. Viele Unternehmen müssen ihr Geschäftsmodell grundlegend überdenken und adaptieren. Das müssen sie erst einmal finanzieren, dazu brauchen sie neben einer Lösung für die Restrukturierungen ihrer Schuldenberge vor allem Margen. Zusammen mit der digitalen Transformation sind das viele Variablen, die über die weitere Entwicklung auch nach 2021 entscheiden werden. Diesen Weg werden nicht alle schaffen – auch wenn es Unternehmen in anderen Ländern vielerorts noch härter und früher treffen dürfte.